Menschlichkeit in der Entmenschung, zweideutig, aber lebensrettend – es gibt sie. Meine Existenz verdanke ich einem finsteren und brutalen Funktionshäftling, einem “Kapo” des Konzentrationslagers.
Von Stéphane Hessel
Christian Pineau, einer meiner frühesten Bekannten aus der Widerstandsbewegung, den ich 1942 in London getroffen hatte, bat mich in Buchenwald, ein Manuskript von ihm zu lesen, das eine besondere Form intellektueller Tätigkeit innerhalb des KZ bezeugt. Denn ihm, dem späteren Außenminister Frankreichs, gelang es, sich als einen ganz unscheinbaren Menschen darzustellen, obwohl er 1940 die Widerstandsgruppe der Gewerkschaften im Norden von Frankreich gegründet hatte, die “Libération Nord”. Er wurde in Lyon festgenommen, ohne dass man ihn als wichtiges Mitglied der Résistance erkannte. Er spielte den Dummen. Pineau fand sich in Buchenwald so zurecht, dass er schreiben konnte. Ich weiß nicht, wie er es gemacht hat. Es handelte sich um ein Theaterstück über Deianeira, die Gattin des Herakles. Pineau war übrigens der Schwiegersohn von Jean Giraudoux, der in seinen Theaterstücken gern antike Stoffe aufgriff. In dem Stück von Pineau verursacht die Eifersucht den Tod des Herkules. Denn dieser würde sich nicht verbrannt haben, um in den Olymp zu gelangen, wenn er nicht an dem Nessushemd der Deianeira so gelitten hätte.Christian Pineau stellt die Eifersucht als die unversöhnlichste aller Leidenschaften dar. Ein Thema, das mich aus unterschiedlichen Gründen interessierte. Aber ich weiß nicht, wo er es geschrieben hat. Vielleicht doch in Buchenwald? Hier bekam man Papier, wenn man sich gut fügte. Also ich weiß nur, wie stolz er darauf war, mir sein Theaterstück geben zu können und mich zu fragen, ob es ein gutes Stück sei oder nicht. Das war typisch für das Bedürfnis, auch in dieser Grenzsituation des Lebens den Geist und die eigene Kunst nicht aufzugeben.
Dem französischen Violinisten Maurice Hewitt gelang es, ein Quartett mit Genehmigung der Lagerleitung zu gründen und Mozart in Buchenwald zu spielen. Wie kam es dazu? Das zwingt uns, kurz auf die sogenannte Lagerselbstverwaltung im KZ einzugehen und ihre Arbeit zu beschreiben: die Tätigkeiten der Kapos, der Stuben- und Blockältesten wie der Lagerältesten, also der privilegierten Funktionshäftlinge. Dazu ist es wichtig zu wissen, dass die deutschen Häftlinge sich in Buchenwald schon seit 1937 aufhielten. Und einige von ihnen waren schon vorher in anderen Lagern, zum Beispiel Arthur Dietzsch, der für mich den Typ eines Kapos darstellt, den man gleichzeitig fürchterlich und unentbehrlich findet. Diese Menschen sind natürlich in den KZs geformt und auch verändert worden. Und doch sind sie dabei Menschen geblieben, wie zum Beispiel die Franzosen, die mit den deutschen Kommunisten zusammenarbeiteten, oder wie Jorge Semprun, der Spanier aus den Reihen der kommunistischen Partei. Sie hatten erreicht, was im KZ aussichtslos erschien, nämlich dass die SS ihnen formal und stellvertretend die Leitung im Inneren des Lagers übertrug.
Um es zu erreichen, mussten sie ein Gleichgewicht zwischen großer Menschlichkeit und großer Brutalität herstellen. Denn sie hatten ja als “Untertanen” nicht nur politische Häftlinge wie uns, sondern auch Kriminelle, von den Juden ganz abgesehen. Die meisten unter den Häftlingen waren keine aktiven Widerständler. Also mussten die Funktionshäftlinge im Auftrag der SS-Wachmannschaft für “Ordnung” sorgen. Und das war eben die hauptsächliche Tätigkeit dieser Kapos. Es gab wenige französische Kapos, zum Beispiel Professor Dr. Alfred Balachowski. Das war ein ganz besonderer Fall.
Balachowski war als Widerstandskämpfer nach Buchenwald deportiert worden. Er hatte sich dort vor den deutschen Ärzten als Forscher am Institut Pasteur zu erkennen gegeben. Und so traf er auch auf die SS-Ärzte, von denen es bösartige gab, etwa Dr. Erwin Ding-Schuler. Der war deshalb so gefürchtet, weil er sich für den Typhus interessierte und Versuche machte, zum Beispiel Typhusinjektionen an Häftlingen, die daran starben. Und dennoch hat er Eugen Kogon als Kapo zu sich genommen. Wie geht so etwas vor sich? Als Balachowski ankam im Lager, sagten sie sich: Den muss man irgendwie benutzen. Wie überhaupt die Idee im KZ vorherrschte, dass man Häftlinge benutzen kann, besonders in einem so großen Lager wie Buchenwald. Und so gewann Balachowski eine große Autorität als Fleckfieberexperte. Aber es gelang den Kapos, uns das Leben zu verlängern und mich vor der bevorstehenden Exekution durch einen Identitätstausch mit einem an Typhus erkrankten, dem Tode geweihten Häftling zu retten. Beteiligt waren neben dem Österreicher Kogon auch der Sozialdemokrat Heinz Baumeister aus Dortmund zusammen mit Arthur Dietzsch.
Wir, die 36 aus Paris deportierten Angehörigen des westalliierten Geheimdienstes unter Leitung von Wing Commander Yeo-Thomas (Dodkin), Offizier der Royal Air Force und Vertrauter von Winston Churchill, waren eine ganz besondere Gruppe. Wir saßen im Häftlingsblock 17 und waren nicht zur Arbeit verpflichtet – als politische Häftlinge, von denen die SS wahrscheinlich wusste, dass wir nicht länger bleiben würden, denn wir waren ja zum Tode verurteilt. Sie warteten nur darauf, dass aus Berlin der Befehl kamnn, jetzt solle man die ersten sechzehn, dann die nächsten zwölf aufhängen. Und daher wurden wir einem Lagerältesten zugewiesen, der uns ganz ordentlich behandelte. Wir durften uns im Lager frei bewegen. So traf ich per Zufall auf alte Bekannte, auf Christian Pineau, den ich schnell wiedererkannte. Er informierte mich: Es gibt morgen ein Streichquartett. Da dürft ihr ruhig hinkommen. Der Geiger Maurice Hewitt hat sich mit den Block- und Lagerältesten von Block 17 verständigt, dass man ein Streichquartett hören könnte.
So erwies es sich in Buchenwald als großer Vorteil, dass die kriminellen (grünen) Häftlinge in den Kapo-Funktionen von den politischen (roten) Häftlingen verdrängt werden konnten, dass die Roten die Grünen nach einem jahrelangen Kampf immer mehr ersetzten. Das ist nur in wenigen Lagern gelungen: In Buchenwald wahrscheinlich auch in Dachau, aber nicht in Mittelbau-Dora. Dort waren es noch die Grünen, die die Kapo-Funktionen innehatten, als ich Anfang November 1944 in das Dora-Nebenlager Rottleberode unter meinem neuen Namen Michel Boitel eingeliefert wurde.
Nach dem Krieg waren wir ein bisschen eifersüchtig auf solche Menschen wie Julien Cain. Von diesem ehemaligen Direktor der Nationalbibliothek in Paris wurde in Buchenwald behauptet, der habe es gut, obwohl er als Jude und als Widerständler nach Buchenwald gebracht worden war. Und einige sagen von denen, die in der Arbeitsstatistik beschäftigt waren, sie seien begünstigt worden, während andere schrecklich dahinvegetieren mussten. Die Unterschiede gerade in Buchenwald zwischen dem kleinen Nebenlager und dem Hauptlager erzeugten widersprüchliche Gefühle. Das hing natürlich auch von den Kapos aus den verschiedenen Schichten ab, den guten und bösen Funktionshäftlingen, von denen man wusste, dass man von ihnen auch ein paar Kartoffeln bekommen konnte und von anderen nur Schläge. Ich erlebte den großen Unterschied mit allen Widersprüchlichkeiten an einem meiner Lebensretter, Arthur Dietzsch.
Dietzsch wird im “SS-Staat” von Kogon als ein berüchtigter, ein schon seit vielen Jahren in Gefangenschaft Lebender dargestellt, der viel Macht in Buchenwald errungen hatte, auch wegen seiner Brutalität. Und das ist das Widersprüchliche im KZ: Auch ich habe Dietzsch als einen gefährlichen Menschen empfunden. Ich wusste zwar, dass er über unser Komplott informiert war, sonst hätte die Rettung gar nicht funktionieren können. Aber man musste sich doch sehr vor ihm vorsehen. Daher habe ich ihn in meinem ersten kleinen Bericht von vierzehn Seiten über Buchenwald in den “Temps modernes” vom März 1946 (Entre leurs mains/In ihren Händen) als einen fürchterlichen Menschen vorgestellt und das “angsteinflößende Gesicht des brutalen, autoritären, sadistischen und hinterhältigen Kapo Dietzsch” beschrieben. Dietzsch hat irgendwie meinen Bericht zur Kenntnis bekommen. Er war entrüstet, weil wir doch ohne ihn gar nicht gerettet worden wären. Wir haben weiter korrespondiert.
Einem Kenner der Bücher von Jorge Semprún und Primo Levi fällt auf, dass hier alle Kapos fürchterlich sind, außer ein paar Naiven. Aus meiner Sicht ist jedoch die Geschichte eines jeden Häftlings durchaus unterschiedlich. Wann hat er Solidarität, wann Menschenhass empfunden? In der Verurteilung der Kapos würde ich nicht so weit gehen wie Semprun, vor allem, was die politischen Kapos aus den Reihen der Kommunisten in Buchenwald betrifft. Ein Lager, ein KZ ist eine Schule, man kann schon sagen, es ist eine wüste Schule. Man lernt zu überleben, und um zu überleben, akzeptiert man, dass das System auf Brutalität beruht. Und das ist das Schreckliche für mich an den Lagern. Und ich denke, so ist es bis heute in allen Lagern unserer Zeit. Denn es gibt ja überall in der Welt – und leider immer mehr – andere Lager. Ein Lager bedeutet eben, die Würde der Menschen darf man nicht berücksichtigen. Anders geht es einfach nicht, sonst kann man nicht weitermachen. Man muss schon den anderen als ein Objekt und nicht als eine Persönlichkeit erleben. Daher ist jeder Kapo, jeder “Prominente”, wer immer es auch ist, ob Lagerältester, Blockältester oder Stubendienst, in Gefahr, unmenschlich zu werden. Diese Gefahr – das ist das Schreckliche in einem KZ – ist größer als die Möglichkeit, menschlich zu bleiben. Das fühlt man sogar als “normaler” Häftling. Denn auch der Häftling stiehlt entweder die Suppe von seinem Kameraden, weil er hungrig ist, oder er gibt von seiner Suppe einem Kameraden, weil der krank ist.
Wann bleibt man ein Mensch und wann wird man ein KZler? Viel hängt davon ab, welchen Rang man in der Ordnung des KZ zugewiesen bekommt und wie man sozialisiert wurde, ob als Franzose oder als Deutscher, gar als Preuße. Ich bin ja kein sehr echter Franzose. Ich bin auch ein bisschen Deutscher. Immerhin kenne ich auch die Preußen – als ein in Berlin 1917 geborener Deutscher, der seit 1924 in Paris lebt. So viel hatte auch ich als Kind mitbekommen: Die Preußen, die wollen Ordnung, und man muss auch leiden, um gut zu sein. Ein Mensch wird nur gut, wenn er leidet. Auch die “Schutzhäftlinge” sollten umerzogen, sollten gut werden. Wir Häftlinge mussten gute Arbeiter sein. Und wenn wir nicht ordentlich waren, dann war es erlaubt, uns zu schlagen.
Im KZ wird ein Deutscher oder ein Tscheche oder vielleicht sogar ein Pole, der prominent ist, von der SS für bestimmte Funktionen ausgesucht. Aber die SS-Leute sieht man nicht. In Buchenwald spazierten sie wohl gelegentlich durchs Lager, aber sie blieben weitgehend unsichtbar. Man sieht die Kapos, man sieht die Lagerältesten, die Stubenältesten, die Kapos in den Kommandos. So empfanden wir den Kapo als den Verantwortlichen. Und man fragte sich: Wie lebt er mit seiner Verantwortung? Erlebt er sie als ein gütiger Mensch, denn er ist ja auch ein Häftling? Das denke ich immer wieder: Man lernt, ein Lagerältester zu werden. Es ist eine lange Erziehung, und ein Teil dieser Erziehung ist Brutalität.
Gerüchte sind unvermeidlich im Lager. Das Gerücht über einen schlimmen Kapo wie Dietzsch blieb in meinem Fall nur ein Gerücht. Vielleicht war er ein sehr normaler Mensch. Er hat mir jedenfalls das Leben gerettet. Er hat es geschafft, den britischen Offizier Harry Pool, der Gestapo nur unter dem französischen Namen Peuleve bekannt, wie auch Yeo-Thomas und mich, den französischen Offizier vom Geheimdienst de Gaulles, an den Wachen vorbei als fingierte tote Typhuskranke mit neuem Namen vor dem sicheren Tod zu bewahren. So etwas in einem Lager, der SS gegenüber und dem SS-Lagerarzt Dr. Schiedlausky, das bedeutet schon große Courage.
Wie schnell wird man zum Täter, wenn man eine Verantwortung in einem schlimmen Lager hat! So waren die Kriminellen, die Verbrecher-Kapos in Dora, außerordentlich brutal und hatten auch Lust daran, zu töten. Man genießt es, einen aufgehängt zu haben. Dagegen traf ich in Buchenwald auf einen Häftling wie Dietzsch, der Befehle sabotierte. Man ist ja selbst ein Häftling, aber manchmal auch Mörder. Und die Grünen empfanden gelegentlich Lust daran, die Ausländer zu quälen. Es gab auch im KZ einen Unterschied zwischen den alten deutschen Oppositionellen und denen, die aus dem Ausland kamen. Das waren Feinde Deutschlands, und die konnte man ruhig zerstören. Wir, die Franzosen, waren schlecht angesehen. Wir waren die Erbfeinde.
In Dora kam ich nach einem Fluchtversuch in ein sogenanntes Strafkommando. Ich war erwischt worden, und in dieser Situation vollbrachte ich meine erste diplomatische Leistung. Ich sprach mit dem SS-Mann, der Robert Lemoine und mich verhörte. Als Deutschsprechender versuchte ich dem SS-Offizier zu erklären: “Wenn man gefangen wird, muss man schon versuchen zu fliehen.” Und er solle mich nicht vernichten, weder durch die 25 Stockschläge auf den Hintern noch durch das Erhängen. Er antwortete: “Gut, also ich stecke dich ins Strafkommando.” Das bedeutete, dass ich nicht in den Tunnel ging, sondern an der Oberfläche blieb. Dort kam ich in die Hände eines Kapo, der Blockführer vom Strafkommando war, ein ganz brutaler Krimineller. Er hatte Vergnügen daran zu boxen und forderte die Häftlinge dazu auf, sie sollten doch mit ihm boxen. Natürlich ließen sie ihn gewinnen.
Ich war aufgeregt, weil ich den deutschen Rundfunk hören konnte und wusste, der Krieg würde bald zu Ende gehen. Wir merkten das auch an den Häftlingen, die aus Groß-Rosen und Auschwitz zu uns kamen. Uns erreichte eine Gruppe von Juden aus Auschwitz. Die blieben nicht und zogen bald weiter, wahrscheinlich nach Bergen-Belsen. Sie sahen aus wie Gespenster. Aus dem Osten erreichte uns eine Häftlingsgruppe. Unter ihnen befanden sich eine ganze Menge von Leichen. Wir würden ein Stück Wurst bekommen, wenn wir diese Leichen aus dem Wagen herauszögen, entkleideten und auf einen Scheiterhaufen brächten. Das war ein ganz besonders schlimmes Erlebnis. Aber das Angebot der Kapos resultierte aus einer eigenartigen Form von Gutmütigkeit: Wer hier nicht verhungern will und ein Stück Wurst oder Brot mehr bekommen will, der muss das eben tun. Und das habe ich mitgemacht. Die Todesmärsche blieben mir erspart. Ich nutzte am 6. April 1945 die Gelegenheit, aus einem Transportzug Richtung Lüneburger Heide erneut die Flucht zu ergreifen.
Noch einmal zurück nach Dora. Als ich von Buchenwald und Rottleberode kommend dort eintraf, wurde ich fünf Tage lang in den Bunker gesteckt. Den habe ich später noch einmal aufgesucht und mich daran erinnert, wie wir, Lemoine und ich, hier einsaßen und umgeben waren von Kapos, und zwar von Roten. Das war zu einem Zeitpunkt, als sie versucht hatten, die anderen, die grünen Kapos wegzudrängen. Es war ein Kampf der Kapos um Leben und Tod. Und die gefangenen Kapos wurden von den siegenden kriminellen Kapos später ermordet. Wir saßen im Bunker und hörten, wie die Besiegten sich über diese Taten unterhielten. Eine grausame Geschichte, die ich lange verdrängt habe. Aber ich erinnere mich noch an das furchtbare Deutsch, das sie miteinander sprachen, diese greuliche, schreckliche, arrogante Sprache den anderen Häftlingen gegenüber. Später wurden alle Gefangenen aufgehängt. Wenigsten hatten wir im Bunker das Gefühl, dass die Gegner aufgehängt wurden. Wohl auch, um Zeugen des Kampfes zwischen Roten und Grünen zu beseitigen. Offensichtlich sollte hier keiner überleben, denn man wollte nicht, dass bekannt würde, was hier passierte.
Vergleichbare Erfahrungen hatte ich in Rottleberode gesammelt. Das war ein Außenlager von Dora-Mittelbau. Ich hatte inzwischen durch den Identitätstausch einen anderen Namen: Michel Boitel. Ich galt weiterhin als politischer Häftling und kam jetzt aus Köln. Wie war dieser Boitel nach Buchenwald gekommen? Das ist mir bis heute unklar. Er gehörte zu einer Gruppe, die an Typhus erkrankt war. Und nun arbeitete dieser Boitel alias Hessel in Rottleberode in einer unterirdischen Fabrik und baute Junkers-Flugzeuge zusammen. Die SS ließ sich die Arbeiter-Häftlinge von den Industriellen bezahlen. Diese mussten 3 bis 4 Reichsmark pro Tag und Häftling zahlen, abgerechnet über das zuständige Arbeitsamt.
Auch in Rottleberode hatte ich Glück. Da gab es zwei Häftlinge. Der eine war der Schreiber vom Lager, und der andere war irgendwie ein anderer Prominenter. Der Schreiber hieß Ulbricht, war aber nicht Walter Ulbricht. Der war ganz glücklich, einen Häftling zu haben, mit dem er Deutsch sprechen konnte. Und ich sagte ihm immer wieder Gedichte auf. Mein Glück über die ganze Zeit war, Deutsch zu können. Natürlich auch ein Gedächtnis zu haben – auch für englische und französische Gedichte. Also ich habe Glück gehabt, bis ich am 8. Mai 1945 nach Paris zurückkehren konnte.
Ich gehöre nicht zu denen, die über ihr Schicksal klagen. Als wir zurückkamen, fragten uns die wenigsten, was wir erlitten hatten. Am stärksten haben das die Juden empfunden. Wahrscheinlich ist die Klage darüber ein wenig übertrieben, denn immerhin war in Deutschland schon einiges bekannt. Es gab auch in Deutschland ziemlich schnell Literatur über die Konzentrationslager.
Frankreich wurde neu aufgebaut. Wir taten es in dem Bewusstsein, dass es wahrscheinlich eine Mehrheit von Franzosen gab, die eigentlich keinen Widerstand geleistet hatte und die sich nur wenig schuldig fühlte. Man lebte mit der Gewissheit: Die Nazis sind schrecklich, die Hauptverantwortlichen kommen jetzt nach Nürnberg vor das Internationale Militärtribunal, und da wird über sie gerichtet. Dennoch war nicht zu überhören, dass wir Überlebenden für die schlimme Zeit mit verantwortlich gemacht wurden. Wir haben überleben können. Das machte uns suspekt, denn hätten wir gekämpft, dann hätten wir nicht überleben können. Also es gab so ein Gefühl, die Verantwortlichkeit und Folgen für die Niederlage nach 1940 mit denen zu teilen, die zum Widerstand zählten.
Heute können wir konstatieren: Die durchlässige deutsche Besatzungspolitik gestattete noch am Ende des Krieges eine offene Kulturpolitik. Man durfte in Paris Stücke von Jean-Paul Sartre aufführen oder Juliette Gréco hören. Wenn ich einen kühnen Vergleich als Betroffener wagen darf, so behaupte ich: Die deutsche Besatzung war, wenn man sie vergleicht zum Beispiel mit der heutigen Besetzung von Palästina durch die Israelis, eine relativ harmlose, von Ausnahmen abgesehen wie den Verhaftungen, Internierungen und Erschießungen, auch vom Raub der Kunstschätze. Das war alles schrecklich. Aber es handelte sich um eine Besatzungspolitik, die positiv wirken wollte und deshalb uns Widerstandskämpfern die Arbeit so schwermachte.
Jörg Wollenberg: Meine Gespräche mit Stéphane Hessel
Ein französisches Buch, das ich gemeinsam mit Edouard Husson unter dem Titel “Goethe à Dachau. Survivre dans les Camps” (Goethe in Dachau. Überleben in den Lagern) vorbereite, brachte mich mit Stéphane Hessel in Kontakt. Aus den langen Gesprächen, die ich mit ihm führte, bietet der hier veröffentlichte Text einen Auszug. Hessel wurde 1917 in Berlin als Sohn des Schriftstellers Franz Hessel und der Journalistin Helen Grund geboren. 1924 ging er mit seiner Mutter nach Paris. Deren ungewöhnliche Dreierbeziehung zum Vater und zum französischen Literaten Henri-Pierre Roché lieferte die literarische Grundlage für François Truffauts Film “Jules und Jim”. 1937 wurde Hessel eingebürgert. Der Wahlfranzose floh 1941 nach London und schloss sich der Widerstandsbewegung an.
Am 10. Juli 1944 wurde Hessel während einer Spionagemission von der Gestapo in Paris verhaftet. Er überlebte das Konzentrationslager Buchenwald durch einen riskanten Identitätstausch im Krankenbau. “Gestorben am 20.10.1944” vermerkt das Aktenblatt des Häftlings Nummer 10 003: Tod durch Typhus. Am Tag darauf wurde ein Leichnam im Krematorium verbrannt. Aber es war nicht die Leiche von Stéphane Hessel, sondern die des an Typhus verstorbenen Michel Boitel, dessen Identität Hessel nun benutzte. Eugen Kogon hat diesen dramatischen Rettungsversuch der zum Tode verurteilten Geheimagenten schon in seinem Buch “Der SS-Staat” dokumentiert. Anschließend überlebte Hessel die Torturen in den Konzentrationslagern Rottleberode und Dora. Die Evakuierung des Lagers Dora nutzte er am 6. April 1945 zur Flucht. Hessel beteiligte sich an der Seite der amerikanischen Truppen an den letzten Kämpfen, um dann nach Paris zu seiner Frau zurückzukehren. Nach 1945 wurde er, der sich eigentlich der Philosophie hatte widmen wollen, Diplomat; zunächst als Gesandter bei den Vereinten Nationen in New York, wo er zu den Verfassern der Erklärung der Menschenrechte gehörte, später als Botschaftsrat in Saigon, Algier und Genf.
Sein Leben verdankte er auch dem “Kapo” Arthur Dietzsch (1901 bis 1974). Dieser war nach eigenem Bekunden Anarchist. Weil er 1923 über die bevorstehende Intervention der Reichswehr gegen die linke Regierung in Sachsen berichtet hatte, wurde er 1924 wegen Hoch- und Landesverrat zu 14 Jahren Zuchthaus verurteilt. Im Anschluss an die Strafverbüßung steckte man ihn 1937 ins Konzentrationslager Buchenwald. Seit Januar 1942 war er Häftlingsoberpfleger in der Fleckfieberstation im Block 46. Trotz seiner Rettungsaktionen für die französischen Häftlinge, aber auch für den Sozialdemokraten Heinz Baumeister oder die Kommunisten Walter Bartel und Robert Siewert wie auch den christlichen Gewerkschafter Eugen Kogon, wurde er 1947 im Dachauer Buchenwald-Prozess zu 15 Jahren Freiheitsentzug verurteilt, weil er Grausamkeiten gegen Häftlinge mit Todesfolge begangen haben soll. Nach einer Anzahl von Zeugenaussagen und Gnadengesuchen wurde ihm 1950 die Reststrafe erlassen. Mithäftlinge hatten bestätigt, dass Dietzsch gegen seinen eigenen Wunsch auf Drängen der illegalen Lagerleitung auf seinem Kapo-Posten geblieben war.
Arthur Dietzsch stellte für mich den Typ eines Funktionshäftlings dar, den man gleichzeitig fürchterlich und unentbehrlich findet.
Wie schnell wird man zum Täter, wenn man eine Verantwortung in einem schlimmen Lager hat!
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